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ANDREA SALCUNI
Römische Großbronzen am UNESCO-Welterbe Limes
Zum Umgang mit Modellen bei der Herstellung römischer Großbronzen in Italien
ANDREA SALCUNI
Zum Umgang mit Modellen
bei der Herstellung römischer
Großbronzen in Italien
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ANDREA SALCUNI
Zum Umgang mit Modellen bei der Herstellung römischer Großbronzen in Italien
Römische Großbronzen am UNESCO-Welterbe Limes . Beiträge zum Welterbe Limes 9
Hrsg. M. Kemkes . Darmstadt 2017
Der Herstellungsprozess einer antiken Groß
bronze im indirekten Wachsausschmelzverfah
ren gestaltete sich als komplexer Vorgang.1 Zu
nächst wurden Negativformen von einem Modell
oder mehreren Teilmodellen abgenommen. An
schließend kleidete man diese mehrteiligen
Hilfsnegative im Inneren mit einer einheitlichen
Schicht Wachs aus und fügte die so gewonnenen
Wachsteile zu einer ganzen Wachsigur (oder,
wenn aus praktischen Gründen sinnvoller, zu
zwei oder mehreren Figurenteilen) zusammen.
Diese wurde, wo nötig, überarbeitet und wieder
um in getrennt zu gießende Partien aufgeteilt,
die nach dem Guss dann erneut zusammenge
setzt werden mussten. 2 Bei den Modellen und
Teilmodellen handelte es sich entweder um in
Ton eigens zu diesem Zweck gestaltete Figuren
bzw. Figurenteile oder um bereits vorhandene
beliebigen Materials, etwa auch Statuen aus Mar
mor oder Bronze bzw. einzelne Partien davon.3
Der Umgang mit den Modellen und ihr Aussehen
im Vergleich zu den nach ihnen gefertigten Bron
zestatuen sind nicht immer präzise zu rekon
struieren, doch manchmal lassen sich hierzu ge
nauere Aussagen treffen.
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn zwei oder
mehr Großbronzen erhalten sind, die derselben
Werkstatt zugewiesen werden können und in
der gesamten Darstellung oder in Teilen davon
weitgehende Übereinstimmungen in Bezug auf
Gestalt und Dimensionen erkennen lassen. Der
artige Zeugnisse erlauben Rückschlüsse darauf,
wie die Bronzewerkstätten bei der mehrmaligen
Verwendung von Modellen (oder sogar von Nega
tivformen) vorgingen, und wie dabei beabsich
tigte oder nicht beabsichtigte Unterschiede zwi
schen den Großbronzen zustande kamen.
Entsprechende Beobachtungen wurden in der
bisherigen Forschung gelegentlich angestellt.4
Bei einzelnen Bronzeplastiken können Informa
tionen zu den Modellen aus verschiedenen
gusstechnischen Eigentümlichkeiten gewonnen
werden, in erster Linie aus Ungleichmäßigkeiten
in der Wandstärke. So weicht etwa bei einigen
kaiserzeitlichen Porträtköpfen der innere Proil
kontur in solcher Weise vom äußeren ab, dass
man von der Anwendung der Mischtechnik –
also sowohl des indirekten als auch des direkten
Verfahrens – ausgehen muss. Die Veränderungen
und Ergänzungen, die erst in Wachs vorgenom
men wurden, betreffen dabei nicht nur Details,
deren Abformung vom Ausgangsmodell Schwie
rigkeiten hätte bereiten können. Grund für sol
che Überarbeitungen des Wachsbildes ist
1 Für die digitale Bearbeitung von Abb. 1 und die Zeichnung
in Abb. 4 danke ich Karlheinz Engemann sehr herzlich, für
wertvolle Anregungen Edilberto Formigli, Hans-Markus von
Kaenel, Wulf Raeck und Ricarda Schmidt.
2 Allgemein zum Herstellungsverfahren antiker und insbesondere römischer Großbronzen siehe Lahusen/Formigli 2001,
479–500.
3 Vgl. Salcuni 2014, 130–132.
4 Vgl. etwa Salcuni/Formigli 2011, 47–51 (B8 und B9) Abb.
176–199 zu zwei Porträtköpfen aus Brescia, deren Wachsmodelle aus derselben Negativform gewonnen wurden, und
Mattusch/Lie 2005, 189–194 zu den beiden Läufern aus der
‚Villa dei Papiri‘ bei Herculaneum.
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Abb. 1: Statue der Victoria aus Brescia mit zeichnerischer Ergänzung des
verlorenen Schildes.
Brescia, Santa Giulia –
Museo della Città.
manchmal auch – wie Götz Lahusen und Edil
berto Formigli überzeugend dargelegt haben –
die Verwendung von neutralen, wenig proi lier
ten Werkstattmodellen, die für Bildnisse
mehrerer unterschiedlicher Personen einge
setzt werden konnten. 5 Die individuellen phy
siognomischen Details wurden erst später dem
Wachsbild zugefügt, indem man sie mit
zusätzlichem Wachs nachmodellierte. Biswei
len scheint man als Ausgangsmodell sogar den
Porträtkopf einer anderen Person verwendet zu
haben, um dann die bestimmenden physiogno
mischen Merkmale nachträglich am Wachsbild
zu verändern. Derartige Vorgehensweisen wa
ren selbstverständlich nicht auf Bildnisköpfe
beschränkt.
Rückschlüsse auf die Modelle sind darüber hin
aus möglich, wenn Großbronzen Unstimmig
keiten aufweisen, wobei diese ebenso die Di
mensionen von verschiedenen Teilen der Figur
betreffen können wie qualitative, formale und
ikonograi sche Aspekte. Welches Erkenntnispo
tenzial derartige Inkohärenzen bieten, soll im
Folgenden exemplarisch an zwei frühkaiser
Zum Umgang mit Modellen bei der Herstellung römischer Großbronzen in Italien
zeitlichen Statuen aus Italien gezeigt werden.
Das erste Beispiel, die geflügelte Victoria von
Brescia, 6 kam als Teil eines Depotfundes zutage
und ist aus stilistischen Gründen wohl in das
zweite Viertel des 1. Jahrhunderts n. Chr. einzu
ordnen.7 Die leicht überlebensgroße Siegesgöt
tin trägt Chiton und Himation und schrieb mit
der rechten Hand, wie ikonograi sche Parallelen
auf Münzen, Gemmen und Reliefs nahelegen,
auf einen nicht erhaltenen Schild (Abb. 1). Verlo
ren sind auch das Schreibzeug, mit dem die Fi
gur den Text aufzeichnete, und der Gegenstand,
auf den sie den linken Fuß setzte. Durch die
Aufschrift auf dem Schild verkündete und zele
brierte die Statue einen Sieg bzw. die Leistun
gen einer wichtigen Persönlichkeit, vielleicht ei
nes Kaisers der julischclaudischen Dynastie.
Eine auffällige Unstimmigkeit an dieser Groß
bronze besteht darin, dass die Gestaltung des
Rückens der Anbringung der Flügel nicht ange
passt ist (Abb. 2). Der rechte Flügel ist teils am
Chiton, teils am nackten Körper angebracht.
Auch die Wiedergabe der einzelnen Chitonfal
ten nimmt keine Rücksicht auf die Flügel. Aus
diesem Grund herrschte in der Forschung lange
Konsens darüber, dass diese eine spätere Zutat
einer zunächst flügellosen Göttin seien. 8 Kürz
lich konnte jedoch nachgewiesen werden, dass
die Flügel von Beginn an zu der Bronzestatue
gehörten. 9 Von den Argumenten, die dafür spre
chen, sei nur kurz das wichtigste erläutert. Zur
Fixierung der separat gegossenen Flügel dienen
zwei Löcher im Rücken der Figur. Senkrecht un
ter den Löchern ist zudem je ein stegartiges
Klötzchen angebracht worden. Diese Blöckchen
greifen in die Flügel ein und verhindern, dass sie
schwanken. Ging die ältere Forschung davon
aus, dass die beiden Klötzchen nachträglich an
geschweißt wurden, so gelang nun der Nach
weis, dass man sie zusammen mit dem Rücken
goss. Die Bronzestatue ist also mit Flügeln kon
zipiert worden. Doch wichtig in unserem Zu
sammenhang ist vor allem die erwähnte Un
stimmigkeit am Rücken der Göttin: Sie zeigt,
dass der Oberkörper der Wachsi gur von einem
ungeflügelten Modell abgeformt wurde.10 Ver
mutlich handelte es sich um die Darstellung
einer Venus, und zwar um eine der vielen Vari
anten bzw. Umbildungen mit Chiton des Aphro
diteTypus ‚Capua‘.11 An die nach diesem
ungeflügelten Ausgangsmodell hergestellte
Wachsi gur fügte man die beiden Klötzchen in
Wachs an, ohne die Gestaltung des Chitons zu
verändern. Nach dem Guss wurden die Flügel in
Abb. 2: Statue der Victoria aus Brescia: Rückseite. Die
beiden Löcher und die durch die Pfeile angezeigten
Klötzchen dienen zur Anbringung der (hier für das Foto
abgenommenen) Flügel.
Abb. 3: Statue der Victoria aus Brescia: Stützpunkt des
verlorenen Schildes auf dem linken Oberschenkel.
die im Rücken vorbereiteten Löcher eingefügt.
Die Victoria von Brescia hielt den verlorenen
Schild mit der linken Hand und stützte ihn auf
den Oberschenkel. Im Mantelwulst seitlich auf
dem linken Oberschenkel zeigen eine Rille und
ein rechteckiges Loch die Stellung des Attribu
tes an (Abb. 3). Allerdings verursachen Druck
und Gewicht des Schildes am Stützpunkt auf
dem Oberschenkel keine Vertiefung im Mantel
wulst, wie man erwarten würde. Die Modellie
rung der Gewandfalten nimmt also keine Rück
sicht auf den Schild.12 Auch diese Inkonsistenz
ermöglicht Aussagen zum Aussehen des Aus
gangsmodells. Dieses war vermutlich so konzi
piert, dass die Figur den Schild zwar ebenfalls
mit der linken Hand am oberen Rand festhielt,
ihn jedoch nicht wie unsere Bronzestatue auf
den Oberschenkel setzte, sondern auf eine eige
ne Stütze, etwa einen Pfeiler.13 Dies ist auch die
häui gere Darstellungsweise von Göttinnen, die
auf einen Schild schreiben und die typologisch
mehr oder weniger mit dem AphroditeTypus
‚Capua‘ verwandt sind.14 Dass die Gestaltung der
Mantelfalten auf dem Oberschenkel keinen Be
zug auf den Schild nimmt, hängt also damit zu
sammen, dass dort im Ausgangsmodell ein
5 Lahusen/Formigli 2001, 460, 491–492 s. v. Mischtechnik.
6 Salcuni/Formigli 2011, 5–34, mit älterer Literatur; Salcuni
2014, 132–136.
7 Hölscher 1970, 77–78; Salcuni/Formigli 2011, 23–24, mit
Diskussion abweichender Datierungsvorschläge.
8 Für eine Übersicht über die diesbezügliche Forschungsgeschichte siehe Salcuni/Formigli 2011, 23.
9 Salcuni/Formigli 2011, 16–18. Vgl. auch Salcuni 2014, 134.
10 Vgl. Salcuni/Formigli 2011, 19–20; Salcuni 2014, 134–135.
11 Zum Typus ‚Capua‘ und seinen zahlreichen Varianten und Umbildungen sowie zum Verhältnis der Victoria von Brescia zu diesem Statuentypus siehe Salcuni/Formigli 2011, 21–22, mit weiterer Literatur.
12 Vgl. Moreno 2002, 119, der deswegen vermutet, in einer ersten
Phase habe die Bronzefigur (eine flügellose, frühhellenistische
Aphrodite) den Schild mit beiden Händen gehalten, um sich darin zu spiegeln.
13 Vgl. Salcuni 2014, 135–136. Weniger wahrscheinlich, jedoch-
nicht auszuschließen ist, dass es sich beim Modell um eine Umbildung des Typus ‚Capua‘ ohne Schild handelte.
14 Repliken des Typus ‚Capua‘ lassen sich so rekonstruieren,
dass Aphrodite bzw. Venus auf den Schild schrieb und ihn auf
eine Stütze setzte (umstritten ist allerdings, ob die Liebesgöttin im Urbild des Typus auf den Schild schrieb – was der Replikenüberlieferung nach zu urteilen größere Wahrscheinlichkeit besitzt – oder sich darin spiegelte): Salcuni/Formigli 2011,
21–22 mit weiterer Literatur. In zahlreichen typologisch nahestehenden Darstellungen, insbesondere auf Reliefs und Münzen, schreibt Venus oder Victoria auf einen Schild, der zumeist
ebenfalls auf einer Stütze steht (z. B. Pfeiler, Säule, Baumstamm; bisweilen trägt ihn ein Eros oder eine andere Figur) und
nur seltener (und nur von Victoria) auf den Oberschenkel gesetzt wird. Zu diesen Darstellungen vgl. zuletzt Moreno 2002,
127–132; Kousser 2008, passim; für weitere Literatur siehe
Salcuni/Formigli 2011, 20–23 (bes. Anm. 76, 95, 107).
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Abb. 4: Statue der Victoria aus Brescia: Hypothetische Rekonstruktion des
Ausgangsmodells (Zeichnung K. Engemann).
Schild weder vorhanden noch vorgesehen war.
Wie man für die Flügel am Rücken nur Löcher
und Klötzchen anbrachte und die Form des Chi
tons dabei nicht veränderte, so wurden für die
Befestigung des Schildes eine Rille und ein Loch
vorbereitet, ohne die Gestaltung des Himations
anzupassen. Beide Stellen zeigen, dass ein be
reits verfügbares Modell zum Einsatz kam, ob
wohl dieses der geplanten Darstellung nicht ge
nau entsprach. Um Arbeit und Zeit zu sparen,
verzichtete man auf die Anfertigung eines neu
en, geeigneteren Modells bzw. Teilmodells.
Die Gründe, weshalb die Stellung des Schildes
im Vergleich zum Ausgangsmodell geändert
wurde, können nur vermutet werden. Sie hän
gen wohl mit dem uns unbekannten Aufstel
lungskontext der Statue zusammen, oder auch
mit dem größeren Spektrum an Möglichkeiten,
die Bronze gegenüber anderen Materialien bie
tet. Jedenfalls erforderte die neue Position des
Schildes, die im Vergleich zum Modell niedriger
und näher am Körper war, dass sich Oberkörper
und Kopf deutlicher zu ihm hinwendeten. Und
tatsächlich beugt sich unsere bronzene Victoria
stärker zum Attribut vor als der Typus ‚Capua‘
und andere Varianten oder Umbildungen da
von.15 Auch die Haltung des rechten Armes, ins
besondere des Unterarmes, musste verändert
Zum Umgang mit Modellen bei der Herstellung römischer Großbronzen in Italien
werden, und vielleicht, wenngleich weniger
stark, ebenfalls die Neigung des linken Armes.
Abb. 4 zeigt einen Rekonstruktionsvorschlag
des Modells, der die Unterschiede zwischen die
sem und der Bronzestatue verdeutlicht. Die
Zeichnung soll freilich lediglich eine Vorstel
lung vermitteln; eine exakte Rekonstruktion
der Körperhaltung des Modells ist auch deshalb
nicht möglich, weil die zahlreichen erhaltenen
Fassungen des Bildschemas immer wieder
leicht im Detail variieren. Die Modii zierung der
Haltung von Oberkörper, Kopf und Armen war
jedenfalls mit wenig Aufwand vorzunehmen,
denn sie erforderte keine Anfertigung von neu
en Teilmodellen. Die Negative für die Herstel
lung der betreffenden Wachsteile konnten vom
verfügbaren Modell abgenommen werden; die
Änderung der Neigung der Wachsteile erfolgte
bei ihrer Zusammenfügung zur kompletten
Wachsi gur. Die dabei notwendigen kleinen An
passungen und Retuschen waren leicht direkt
in Wachs durchzuführen. Denn es ging hierbei
nur um unwesentliche Überarbeitungen, nicht
vergleichbar mit den schwierigeren und ar
beitsaufwändigeren Veränderungen der Model
lierung, die an den Gewandfalten am Rücken
und am linken Oberschenkel nötig gewesen wä
ren. Auf diese hat unsere Werkstatt, wie oben
erläutert, einfach verzichtet und die beschrie
benen Unstimmigkeiten in Kauf genommen.16
Eine weitere Großbronze, die sich durch nicht
zu übersehende Inkonsistenzen auszeichnet, ist
die etwa zeitgleiche und ebenfalls überlebens
große Panzerstatue des Germanicus aus Amelia
in Umbrien17 (Abb. 5). Das Standbild ist fast voll
ständig erhalten, musste aber mühsam aus zahl
reichen Fragmenten wieder zusammengesetzt
werden, die 1963 außerhalb der antiken Stadt
mauer zutage getreten waren. Auf die Unstim
migkeiten dieses Werks hat bereits Giulia Rocco
aufmerksam gemacht.18 Sie schließt daraus, dass
diverse Teile der Statue nachträglich ersetzt
worden seien, und rekonstruiert so drei Phasen,
in denen die Bronzei gur auch drei verschiede
ne Porträtköpfe getragen habe.19 Wie an anderer
Stelle dargelegt, können all diese Inkonsisten
zen jedoch innerhalb einer einzigen Phase er
klärt werden, und zwar mit der Verwendung
von Teilmodellen, die nicht gemeinsam entstan
den waren und daher nicht genau zueinander
passten. 20 Es ist mithin durchaus möglich, dass
die Statue von Beginn an Germanicus darstellte
und so aussah, wie sie erhalten ist – von ihren
Beschädigungen natürlich abgesehen.
Die Unstimmigkeiten liefern auch in diesem Fall
wertvolle Informationen zu den Ausgangsmo
dellen. Dass man für den GermanicusKopf und
den gepanzerten Oberkörper zwei unterschied
liche Modelle verwendete, die unabhängig von
einander konzipiert wurden, ist evident, denn
der Kopf ist ein wenig zu klein im Vergleich zum
Körper. 21 Auch das Ausgangsmodell für den
rechten Arm dürfte nicht gemeinsam mit dem
jenigen des Muskelpanzers entworfen worden
sein. Die aktuelle Haltung des Armes, der abge
brochen aufgefunden wurde, ist nicht gesichert:
Die Restauratoren verfügten über keine An
haltspunkte, um seine exakte Neigung zu re
konstruieren. 22 Sie haben sich für eine durchaus
nachvollziehbare Lösung entschieden, die aller
dings nicht unproblematisch ist. Denn einer
seits spricht die Fingerhaltung dafür, dass der
Arm – wie auch immer dieser Gestus der akti
ven Hinwendung hier konkret zu interpretieren
ist – erhoben war, und zwar noch höher als in
der jetzigen Rekonstruktion; andererseits ist
bei einem derart erhobenen und nach vorne ge
streckten rechten Arm eine leicht erhobene
rechte Schulter zu erwarten, während die
Schultern hier eine gerade, horizontale Linie
bilden 23 (Abb. 5 – 6). Die Gestaltung des gepan
zerten Oberkörpers scheint also nicht auf die
Armhaltung abgestimmt zu sein und würde
eher etwa zu einem gesenkten Arm passen. Die
aktuelle, ungefähr waagerechte Montage des
Armes stellt eine Art Kompromisslösung dar,
die die Inkonsistenz zumindest partiell
15 Der Kopf ist zu einem späteren, nicht bestimmbaren Zeitpunkt zusätzlich leicht nach vorne gedrückt worden, wie
Beschädigungen am Halsansatz nahelegen: Salcuni/Formigli 2011, 6.
16 Die Victoria zeigt noch zwei weitere Inkonsistenzen, die die
Faltenführung des Mantels an den beiden Hüften betreffen:
Salcuni/Formigli 2011, 13 Abb. 25–27. Auch hier ist von Unterschieden zwischen Bronzestatue und Modell auszugehen,
doch hängen diese Inkonsequenzen nicht mit beabsichtigten
Umbildungen zusammen, sondern sind wohl als Fehler während der Zusammenfügung der Wachsteile entstanden. Einzelne kleinere Gewandteile der Großbronze wurden übrigens
aufgrund arbeitstechnischer Vorteile in der Mischtechnik und
wahrscheinlich auch im direkten Verfahren hergestellt: Salcuni/Formigli 2011, 12–13.
17 Rocco 2008, mit älterer Literatur; Cadario 2011b; Salcuni
2014, mit weiterer Literatur.
18 Rocco 2008, 528–538 und passim.
19 Rocco 2008, 661–716.
Abb. 5: Statue des Germanicus aus Amelia. Soprintendenza per i Beni
Archeologici dell’Umbria; derzeit in Amelia, Museo comunale.
20 Salcuni 2014.
21 Vgl. Salcuni 2014, 140–142, wo ferner dargelegt wird, dass
die von Rocco 2008 auch aus Beobachtungen zur Montage
des Kopfes gezogene Folgerung, beim Porträt des Germanicus handele es sich nicht um das erste der Bronzestatue (vgl.
auch Cadario 2011b), zwar nicht auszuschließen (zur Wiederverwendung von Statuenkörpern für neue Bildnisköpfe bei römischen Großbronzen vgl. Lahusen/Formigli 2001, 459), jedoch keineswegs zwingend ist.
22 Dies gilt übrigens auch für den linken Arm, dessen aktuelle
Neigung nicht korrekt erscheint: Vermutlich war er ursprünglich so montiert, dass der Unterarm etwas höher und weiter nach vorne geführt war (vgl. Rocco 2008, 525, 569, 732–
737).
23 Vgl. Rocco 2008, 533, 562–569; Salcuni 2014, 137–138.
Auch im Fall der Augustusstatue von Prima Porta bilden die
Schultern bei einem erhobenen rechten Arm eine horizontale Linie; dort ist die Darstellung aber anatomisch stimmig, da
der Oberarm horizontal nach rechts geführt wird.
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Abb. 6: Statue des
Germanicus aus Amelia:
Rückseite.
Abb. 7: Statue des
Germanicus aus Amelia:
Inkonsequenz in der
Reihenfolge der pteryges
an der rechten Hüfte.
kaschiert. Ob auch bei der Anfertigung der
Bronzestatue diese ikonograi sch singuläre Lö
sung gewählt wurde, oder ob der Arm stärker
erhoben und die anatomische Unstimmigkeit
zwischen Oberarm und Schulter dadurch auf
fallender war, ist schwer zu sagen. Jedenfalls
darf vermutet werden, dass man für den Panzer
auf ein Modell zurückgriff, das mit einem an
ders gestalteten und gehaltenen rechten Arm
entworfen worden war. 24 Dafür, dass dieser ge
senkt und am Körper anliegend gewesen sein
könnte, 25 spricht eine Inkonsequenz, die sich an
der rechten Hüfte in der Reihenfolge der vorde
ren und hinteren langen pteryges beobachten
lässt 26 (Abb. 7). Es dürfte kein Zufall sein, dass
sich dieser auffällige Fehler genau in dem Be
reich bei ndet, den man sich im Modell teilweise
von Unterarm und Hand des gesenkten Armes
bedeckt vorzustellen hätte.
Die Werkstatt, die die Bronzestatue herstellte,
verwendete also für den Panzer ein ihr bereits
zur Verfügung stehendes Ausgangsmodell, ver
sah ihn aber wahrscheinlich mit einem neuen
Arm und mit einem Porträtkopf, der ebenfalls
nach einem anderen Modell gefertigt wurde.
Außerdem erfuhr der reliefverzierte Panzer –
zusätzlich zur Anbringung separat gegossener
Bronzeappliken – sicherlich auch Veränderun
gen und Ergänzungen einiger Details in Wachs. 27
Bei diesen Überarbeitu ngen, die wiederum zu
kleineren formalen und ikonograi schen Un
stimmigkeiten führten, 28 handelt es sich teils
um die Folge von Schwierigkeiten bei der Abfor
mung des Modells, teils um intentionelle Umbil
dungen.
Die Statuen der Victoria aus Brescia und des
Germanicus aus Amelia zeigen exemplarisch,
dass sich die römischen Bronzewerkstätten bei
der Verwendung von Teilmodellen nicht immer
bemühten, die verschiedenen Partien der
Wachsi gur zu einer in allen Einzelheiten kohä
renten Darstellung zu harmonisieren. Auf diese
Weise entstanden Unstimmigkeiten, die ihrer
seits Rückschlüsse, wenn auch zum Teil nur hy
pothetische, auf das Aussehen der Modelle zu
lassen. Dies ist auch insofern von Bedeutung, als
der Umgang mit Vorbildern in seinen unter
schiedlichen handwerklichen, formalen und in
haltlichen Aspekten einen wesentlichen Punkt
in der Beurteilung römischer Bildkunst im All
gemeinen und Plastik im Besonderen darstellt.
Der Beitrag, den die Großbronzen diesbezüg
lich liefern können, ist in mancherlei Hinsicht
größer als derjenige der Marmor und Stein
skulptur, und dies zum einen wegen der An
wendung der indirekten Technik, die das Ab
formen von Modellen vorsieht, zum anderen
aufgrund der deutlicheren Spuren, die die ein
zelnen Schritte des Herstellungsverfahrens bei
Bronzestatuen hinterlassen. Hier steckt sicher
noch Potenzial für die zukünftige Forschung.
Dr. Andrea Salcuni
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für Archäologische Wissenschaften
Norbert-Wollheim-Platz 1
60629 Frankfurt am Main
E-Mail: salcuni@em.uni-frankfurt.de
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Salcuni 2014 · A. Salcuni, Le incongruenze della statua loricata di Germanico da Amelia. Note sull’uso
di modelli parziali nella produzione di grande plastica in bronzo in epoca romana. In: F. Kemmers/Th.
Maurer/B. Rabe (Hrsg.), Lege Artis. Festschrift für
Hans-Markus von Kaenel (Bonn 2014) 129–144.
24 Vgl. Salcuni 2014, 138.
25 Die Haltung der beiden Arme im Modell könnte man sich in
diesem Fall etwa ähnlich vorstellen wie bei der Panzerstatue
des Drusus Minor in Cagliari: Cadario 2011a.
Salcuni/Formigli 2011 · A. Salcuni/E. Formigli,
Grandi bronzi romani dall’Italia settentrionale. Brescia, Cividate Camuno e Verona (Bonn 2011).
Abbildungsnachweis
Archivio Fotografico Civici Musei d’Arte e Storia, Brescia, Bearbeitung K. Engemann nach Vorlage Verfasser: 1. – Archivio Fotografico Civici Musei d’Arte
e Storia, Brescia, Bearbeitung Verfasser: 2. – Foto E.
Formigli: 3. – Zeichnung K. Engemann nach Vorlage
Verfasser: 4. – Soprintendenza per i Beni Archeologici dell’Umbria: 5. – nach Rocco 2008 Abb. 24: 6. –
nach Rocco 2008 Abb. 26, Bearbeitung Verfasser: 7.
26 Vgl. zu dieser Inkonsequenz Rocco 2008, 517–520, 666–
667; Salcuni 2014, 138 Anm. 36.
27 Salcuni 2014, 138–139.
28 Vgl. Rocco 2008, 533–537, 579–655.